Referat von Prof. Dr. Lorenz beim Europa-Seminar von ...
15.11.2008

Referat von Prof. Dr. Lorenz beim Europa-Seminar von Europa-FELS zu gesellschaftlichen Veränderungen und deren Ursachen für Krisensituationen im schulischen Alltag

Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen der europäischen Industriegesellschaften und ihre Bedeutung für die Entstehung von Krisensituationen im schulischen Alltag.

Walter Lorenz
Freie Universität Bozen


Die gegenwärtigen Transformationsprozesse, die sich quer durch alle europäischen Gesellschaften abzeichnen, können insgesamt auf das Phänomen der Krise der Moderne bezogen werden. Die Prozesse sind natürlich nicht auf Europa beschränkt sondern haben ihre Entsprechungen in anderen Teilen der Welt, sie betreffen aber Europa in einer besonderen Weise, so meine Hypothese, weil geschichtlich betrachtet Europa als Motor der Moderne angesehen werden kann. Wenn nun die Grundprinzipien, auf denen sich die historische, gesellschaftliche, kulturelle, ökonomische und politische Entwicklung Europas stützte, ins Wanken geraten, hat dies für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unmittelbare Auswirkungen und betrifft es Jugendliche in besonderem Masse. Jugendliche in der entscheidenden Phase der Sozialisierung sind besonders anfällig gegenüber Verwandlungen in der Wertestruktur einer Gesellschaft und erleben eine doppelte Verunsicherung, indem ihnen einerseits Anpassung eine stärkere Involvierung in die Wertekrise bringt, andererseits für einen Widerstand wenige intellektuelle und kulturelle Ressourcen zur Verfügung stehen oder, was noch schlimmer ist, ihnen Orientierungskonzepte in der Form von Ideologien angeboten werden, die wesentliche Züge der Moderne verneinen und sich an fiktiven vormodernen Bedingungen orientieren.

Diese Krise der Moderne hat keine eindeutige Ursache, aus der man linear ihr Entstehen ableiten könnte. Vielmehr besteht sie aus einer Reihe sich gegenseitig bedingender und verstärkender Faktoren, von denen jeder einzelne für seine Behandlung ein eigenes Referat erforderlich machte, die jedoch im folgenden als in einander verflochten skizziert werden sollen.

ORGANISCHE SOLIDARITÄT

Ausgegangen wird dabei von einem Verständnis der Moderne, die nach Therborn (2000) ein lineares Entwicklungsschema impliziert, das die Gegenwart von einem kollektiven Verständnis von Zukunft her definiert. „Die Vormoderne blickt zurück auf die Vergangenheit, auf vergangene Erfahrungen und macht sie zum Vorbild hinsichtlich Weisheit, Schönheit oder Herrlichkeit. Die Moderne richtet ihren Blick auf die Zukunft, setzt ihre Hoffnungen auf sie, plant für sie, entwirft sie“ (Therborn 2000, S. 18). Charakteristisch für diese Entwicklung ist oder war also der Begriff des Fortschritts und der Anspruch, Entwicklungen in den Griff zu bekommen.

Mit dieser Haltung gingen die Europäischen Gesellschaften auch ans Werk, als es galt, die durch die fundamentalen ökonomischen Veränderungen im Zuge der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen Solidaritätsprobleme für die Gesellschaften zu lösen. Die dabei entstehenden politischen Organisationsformen der europäischen Nationalstaaten fanden sich mit der Aufgabe konfrontiert, die durch arbeitsteilige moderne Produktionsformen brüchig gewordenen Solidaritätsstrukturen der traditionellen Gesellschaften, also der dörflichen Gemeinschaft, der Grossfamilie, der feudalistischen Anhängerschaft an kleine Herrscherfamilien, durch bewusst organisierte Strukturen zu ersetzen, das Zusammenleben in den Ballungszentren zu ordnen und die kulturell diversen Bevölkerungsteile auf eine gemeinsame nationale Kultur und Sprache hin zu erziehen und zu verpflichten. „Die rational geplante Gesellschaft war die erklärte causa finalis des modernen Staates“ (Bauman 2005 S. 41).

In diesem Zusammenhang repräsentiert das Modell des Wohlfahrtstaats (in verschiedenen Ausprägungen des welfare state oder Sozialstaats in Europa), das vor allem nach dem 2. Weltkrieg Verbreitung fand, ein zentrales Element des Projekts der Moderne. Indem die Sicherung sozialer Risiken und der Ausgleich der Spaltungen provozierenden sozialen Unterschiede zu einer legitimen Aufgabe des Staats wurde, konnte die Bevölkerung insgesamt auf das Projekt des Fortschritts auf eine gemeinsame bessere Zukunft hin verpflichtet werden und zwar, im Unterschied zum Faschismus, mit friedlichen Mitteln. Dies brachte Europa die längste kontinuierliche Friedensperiode und den stärksten ökonomischen Aufschwung seiner Geschichte. Der Widerstreit zwischen zwei fundamental entgegengesetzten ideologischen Systemen, dessen Frontstellung mitten durch Europa hindurch verlief und als Kalter Krieg geführt wurde, hatte ja eine gemeinsame Basis in dem Anspruch, dass beide Systeme, Kommunismus und Kapitalismus, ihren Anhängern eine bessere soziale Zukunft versprachen, wenn diese auch mit völlig anderen Mitteln zu erreichen wäre. Die Moderne kann also als der Versuch der Re-Solidarisierung industrieller Gesellschaften mit Mitteln der rationalen Planung angesehen werden. Die gemeinsame Verpflichtung auf vernünftige soziale Programme sollte allen eine bessere Zukunft eröffnen. Der Kalte Krieg illustrierte allerdings, dass die moderne Suche Solidaritätsformen ganz unterschiedliche Formen annehmen konnte und die unterschiedlichen ideologischen Richtungen, schon vor dem globalen Ost-West Konflikt, hatten jeweils etwas unterschiedliche Strukturelemente der Zugehörigkeit geschaffen, wie eben die soziale Klasse, die Familie, den Verein, die Sprachgemeinschaft, die Kirche, das Volk und eben auch die Nation. Viele dieser Strukturformen enthielten noch Elemente einer vormodernen Organisationsform und nährten auch zuweilen die Sehnsucht nach einer Rückkehr in diese Formen, aber es überwog eine Tendenz der ständigen Verbesserung und Weiterentwicklung.

ENTSOLIDARISIERUNG

Dem entspricht nicht mehr die heutige Situation von Gesellschaften. Um Therborn nochmals zu zitieren: „Die Moderne ist dann zu Ende, wenn Wörter wie Fortschritt, Vorreiterrolle, Entwicklung, Emanzipation, Befreiung, Wachstum, Akkumulation, Aufklärung, Verbesserung oder Avantgarde ihre Anziehungskraft verlieren und nicht mehr als Anleitung für soziales Handeln dienen“ (Therborn 2000, S. 18). Dieses Ende der Moderne – und es sei hier dahingestellt, ob der darauf folgende Gesellschaftszustand schon in einer umfassenden Weise charakterisiert werden kann als „Postmoderne“ oder „Zweite Moderne“ – äussert sich vor allem in einer umfassenden Auflösung der für die modernen Gesellschaften konstitutiven, oben genannten Strukturelemente. An ihre Stelle tritt eine Betonung des Individuums und seiner Eigenverantwortlichkeit, die sich dann wohl wieder in situativen, temporären, zweckgebundenen sozialen Gebilden konkretisieren kann, die aber ihre Verbindlichkeit verlieren. Daraus entsteht ein umfassender Prozess der Ent-Solidarisierung, womit nicht nur die Herauslösung von Menschen aus gewohnten Lebensstrukturen gemeint ist, sondern die fundamentale Veränderung der Einstellung sozialen Bindungen gegenüber. Waren einige von diesen schon in der Moderne eindeutig zweckorientiert, so konzentriert sich der Zweck nun überwiegend auf den individuellen Vorteil statt auf ein allgemeines Vernunft- und Rationalitätsprinzip. Ins Zentrum rückt die individuelle Auswahl, der individuelle Lebensentwurf, der individuelle Nutzen.

Illustrieren kann man das z.B. an der Aufkündigung des Generationenvertrags: Auf der Höhe der Sozialstaatvereinbarungen wurden in den meisten europäischen Staaten staatliche Pensionen eingerichtet, die nicht durch Rücklagen der Einzelnen bei einer staatlichen Versicherung gedeckt waren, sondern durch direkte Transfer-Leistungen von den gegenwärtig bezahlt Arbeitenden an die gegenwärtigen versicherten Pensionäre. Damit konnten Leistungen im Pensionsalter an die Inflation angepasst werden und Menschen im Ruhestand waren nicht mehr negativ betroffen von der Verteuerung der Lebensunterhaltskosten, die ihre eigenen Ersparnisse hatte vormals zerschmelzen lassen. Die derzeitigen Arbeitnehmer in den europäischen Gesellschaften können sich nicht mehr auf diesen Mechanismus verlassen sondern werden aufgefordert, individuell Vorsorge zu tragen für die Erhaltung ihres Lebensstandards im Alter. Sie müssen sich individuell beraten lassen, individuell Versicherungsverträge abschliessen, individuell die Risiken verschiedener Investitionsformen abwägen, deren Erträge alles andere als garantiert sind. Lebensplanung wird zum persönlichen Risiko.

DEMOGRAPHISCHER WANDEL

Wie konnte es dazu kommen? Zum genannten Beispiel wird die Überalterung der Gesellschaft als Ursache zitiert, also der Wandel des Verhältnisses zwischen dem erwerbstätigen Teil der Bevölkerung und dem von Transfer-Leistungen abhängigen Teil wie Kinder und Jugendliche und Senioren. Dieses Verhältnis verschlechtert sich zu Lasten der Erwerbstätigen aufgrund der wachsenden Lebenserwartungen und der gleichzeitig abgesunkenen Reproduktionsrate (Kaufmann 2005). Dieser demographische Wandel steht in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung und des Ausbaus des Wohlfahrtstaats: Die höhere Lebenserwartung wurde durch eine systematische Verbesserung der Gesundheitssysteme und der Arbeitsverhältnisse erreicht. Errungenschaften, die die negativen Auswirkungen der Eigendynamik des Kapitalismus dämpfen und für die Schäden kompensieren. Gleichzeitig veränderten die verschiedenen Massnahmen der sozialen Absicherung die ökonomische Bedeutung von Kindern in der eigenen Familie. Galten diese einmal als Vorsorgeinvestition für die Altersperiode der Eltern, in der sie einmal die Pflege übernehmen konnten, so haben soziale Massnahmen mittlerweile Kinder grossteils aus dieser Verantwortung entlassen, wodurch ihre rein emotionale Bedeutung wächst. Kinder sind eine Art persönlicher Luxus und Eltern überlegen sich immer sorgfältiger, ob und zu welchem Zeitabschnitt ihrer Lebensphase sie sich Kinder leisten können.

Diese Überlegungen und die daraus resultierenden Veränderungen nicht nur in der Zahl der Kinder, sondern auch in der Lebensphase, in der Paare heiraten und Frauen Kinder gebären, haben wiederum ökonomische Ursachen: Frauen werden dringend auf dem Arbeitsmarkt gesucht und streben auch ihrerseits im Rahmen der Emanzipation und der kulturellen Rollenveränderungen der Frau auf diesen Arbeitsmarkt, so dass der Anteil der berufstätigen Frauen in allen europäischen Staaten erheblich gestiegen ist, wenn auch mit noch signifikanten nationalen und kulturellen Unterschieden. Geburtenraten steigen nur wieder, wenn soziale Unterstützung in der Form von Elternurlaub, Kindergeld oder der Bereitstellung von Krippen- und Kindergartenplätzen als Kompensation für die durch Kinder entstehenden zusätzliche finanzielle Belastung bereitgestellt werden, wie das in Frankreich und Schweden z.B. der Fall ist. Kinder werden zum Risikofaktor.

ÖKONOMISCHER WANDEL

Die einschneidendsten Transformationsprozesse werden aber durch die Dynamik des Kapitalismus ausgelöst, der vor allem seit dem Ende des Kalten Kriegs seine globalisierenden Tendenzen schrankenlos entwickeln konnte. Der Abbau von Grenzen und die erleichterte Mobilität des Kapitals (und, aber in viel geringerem Masse der Arbeitskräfte) beschränkt sich nicht auf die Europäische Union, sondern wird global vorangetrieben unter Führung der Welthandelsorganisation WTO, die im Rahmen der GATT Verhandlungen einen weitgehenden Abbau von Zolltarifen erreicht hat. Die damit von staatlichen Kontrollen weniger steuerbare Eigendynamik des Marktes erfasst alle Länder und erzeugt ein länder- und regionenübergreifendes Konkurrenzbewusstsein. Regierungen können drohende Verlagerungen ganzer Industriezweige aus ihrem Land in Länder mit niedrigerem Lohnniveau kaum mehr verhindern und dadurch wächst in allen Bereichen die Unsicherheit um die Zukunft der Arbeitsplätze. Für einige Bereiche der Produktion und der Service-Leistungen bringt dies neue Chancen, für andere den Niedergang. Flexibilität ist gefragt, individuelle Anpassung an rapide Veränderungsprozesse, und die Verringerung politischer Möglichkeiten des Gegensteuerns verschärft die Spaltung zwischen Armut und Reichtum, die ja durch den Sozialstaat in Grenzen gehalten werden sollte. Die Armutsgrenze verläuft zusehends nicht mehr zwischen armen und reichen Ländern als solchen, sondern quer durch Länder, so dass auch in vormaligen Entwicklungsländern sich Eliten des Reichtums bei gleichzeitiger fataler Armut bilden können.

Dadurch entstehen wiederum neue Mobilitätsschübe innerhalb und zwischen den global vernetzten Ländern in einem Ausmass, wie es für die erste Phase der Industrialisierung im 19. Jahrhundert schon einmal bezeichnend war, mit dem Unterschied aber, dass nun sowohl urbane Ballungszentren in den Entwicklungsstaaten als neue Ziele gelten, als auch die hochindustrialisierten Länder Europas, die zuvor immer ihre arbeitslose Bevölkerung in andere Teile der Welt verschicken konnten.
TECHNOLOGISCHER WANDEL

Verstärkt werden die Tendenz und die Fähigkeit der Ökonomie zur Globalisierung durch den rapiden technologischen Wandel, vor allem im Zeichen der Digitalisierung. Nicht nur sinkende relative Transportkosten intensivieren weltweiten Handel, Medien und Kommunikationsmittel lösen auch für nicht-kommerziell Interessierte die Standortgebundenheit auf und schaffen die Illusion verfügbarer Omnipräsenz. Aber nicht nur ökonomische Transaktionen finden zunehmend im virtuellen Raum statt, auch das soziale Leben entgrenzt sich ins Virtuelle hinein, indem soziale Kontakte mehr denn je medienbasiert sind und sich vor allem Jugendliche im Cyberspace virtuelle Freizeitexistenzen aufbauen. Giddens charakterisiert Globalisierung als die "Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, daß Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt." (Giddens 2008, S. 107). Dieser technologische Wandel ermöglicht – oder bedingt – die Entstehung von sogenannten Netzwerkgesellschaften, die über Raum und Zeit anders verfügen als territorial gebundene und definierte Gesellschaften. Die sozialen und ökonomischen Auswirkungen spalten jedoch die Gesellschaften noch mehr, indem der tatsächliche Vorteil der grösstmöglichen Unabhängigkeit von Zeit und Raum nur von einer technologischen und entsprechend finanziell begünstigten Elite ausgeschöpft werden kann, während ein grosser Teil der Bevölkerung und vor allem der Jugend davon ausgeschlossen wird oder in der Nutzniessung auf Surrogateffekte reduziert wird wie Computerspiele oder Musikkonsum aus globalen Quellen.

KULTURELLER WANDEL

Damit verbinden sich Technologie, Ökonomie und Demographie mit kulturellen Transformationsprozessen. Indem globale Einflüsse, Kommunikationsmöglichkeiten und die Ankunft von neuen Migranten mit dem territorialen Bezugspunkt auch das kulturelle Referenzsystem suspendieren wird der Umgang mit Identitäten und die Beibehaltung auf Permanenz angelegter Gemeinschaftsformen problematisch. Auch auf dieser Ebene manifestiert sich die Notwendigkeit des Wählens, der Konstruktion eigener Identitäten, die Wahl unter unbegrenzten Möglichkeiten und damit die Bedrohung einer stabilen Kontinuität und Integration verschiedener Identitäten in gesellschaftlich anerkannten Strukturen durch völlige Beliebigkeit. Die patchwork family ist Ausdruck des Versuchs, durch ständig neues Wählen eine Selbstfindung herbeizuführen, die aber oft gerade an der durch den Wahlakt erodierten Verbindlichkeit scheitert. Auch die physikalischen Grenzen der Wählbarkeit werden ständig erweitert und haben längst die Ebene des Oberflächlichen, wie etwa der Kleidung, der Haarfarbe und der aufgetragenen Kosmetik verlassen und dringen tiefer in die Biologie ein, durch Tätowierung, Piercing, kosmetische Operationen bis hin zur chirurgischen Transformation der Geschlechtszugehörigkeit und der neuen Frontlinie der Genetik. Selbstbestimmung als zentrales Konzept der Moderne scheint sich verselbständigt zu haben und erfordert einen gesteigerten Reflexionsgrad, der angesichts der hierfür mangelnden Bezugspunkte und Orientierungshilfen nicht mehr zu bewältigen ist.

POLITISCHER WANDEL

Galt es bisher als die zentrale Aufgabe des politischen Regierens, in diese Prozesse steuernd einzugreifen und Alternativen kollektiver Bewältigung dieser Herausforderungen auszuhandeln und vor den Wählerinnen zu verantworten, setzte sich vor allem im letzten Jahrzehnt in Europa ein gesamtpolitischer Wandel durch dessen zentrale Botschaft die Bejahung der Individualisierung und damit der Entsolidarisierung ist. Der Staat delegiert Verantwortung mehr und mehr an private Organisationen und fordert die Individuen auf, aktiv zu werden und in der Bewältigung gegenwärtiger Probleme und der Vorsorge für die Zukunft Eigeninitiative zu zeigen. Bezeichnend dafür ist die Parole von der „Ich-AG“ die zu mobilisieren gerade eine sozialdemokratische Partei die Bürger aufforderte. Damit wird den gemeinschaftlichen Solidaritätsstrukturen, die zur Stabilisierung der modernen Industriegesellschaften einen entscheidenden Beitrag geleistet hatten, die Basis der politischen Legitimität entzogen oder ihre Rolle auf das rein Private begrenzt. Gewerkschaften werden in einigen Ländern massiv unterminiert, öffentliche Dienste wie Volkshochschulen, Bibliotheken, öffentliche Gesundheitsdienste, öffentlicher Transport werden privatisiert, öffentliche Sozialbeihilfen werden reduziert und mit Bedingungen der Aktivierung der Betroffenen verknüpft.

SYMPTOME IM SCHULALLTAG

Diese komplexen Zusammenhänge, und nicht das isolierte Erscheinen grösserer Zahlen von Migranten in europäischen Gesellschaften stellen vor allem Jugendliche vor Aufgaben, an deren Bewältigung sie häufig scheitern. Die Kombination dieser in einander greifenden Prozesse lässt eine Unruhe entstehen, die gerade im schulischen Alltag deutlich zu spüren ist. Es wäre absurd, die krassesten Symptome dieser Unruhe, die unter den Titeln wie bullying, Gewaltbereitschaft und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom die Schlagzeilen machen, direkt und allein auf diese globalen Veränderungen zurückzuführen, aber die Verbindung zu diesen Prozessen muss mit bedacht werden. Womit Jugendliche unmittelbar und in allen Gesellschaftsschichten und geographischen Regionen Europas konfrontiert werden ist eben nicht die Ablösung einer Wertestruktur durch eine andere, ein Bruch der bisher typisch für adoleszentes Engagement war, indem sich Jugend mit neuen Idealen und Ideen dem Alten widersetzte, sondern die Fragmentierung verbindlicher Strukturen zugunsten individuell gewählter und gestalteter Lebensentwürfe.
GEGENSTRÖMUNGEN

Unter dem Druck dieser Transformationsprozesse geraten die Bewältigungskompetenzen vor allem der Jugendlichen an ihre Grenzen. 2Unter derartig neuen Bedingungen schrumpfen die Zivilgesellschaften zusammen und verlieren ihre Bindung, denn die Kontinuität zwischen der Logik der Schaffung von Macht im globalen Netzwerk und der Logik der Assoziation und Repräsentation in den spezifischen Gesellschaften und Kulturen ist jetzt entfallen. Die Suche nach dem Sinn findet dann ihre Stätte in der Rekonstruktion defensiver Identitäten… Der grösste Teil des sozialen Handelns organisiert sich dann durch den Gegensatz zwischen nicht identifizierten Strömen und gegeneinander abgeschlossenen Identitäten“ (Castells 2002 S. 13f).

Es ist daher verständlich, aber muss als umso beunruhigender erscheinen, dass angesichts an diesem Überangebot an Wählbarem und dem Überdruck des individuellen Wählens „alte“ Bewältigungsstrategien vermehrt auftreten, die einen Ausweg aus diesem Druck anbieten. Gemeint ist damit der Rückgriff auf etwas Festes, Vertrautes, Eindeutiges, jenseits aller Diskussion Liegendes wie es am krassesten durch die verschiedenen Erscheinungsformen des Rassismus angeboten wird. Der Rückgriff auf eindeutige biologische oder kulturelle Determinanten schneidet die endlos scheinenden Reflexionsschleifen ab und bietet an, „Fakten zu schaffen“. Dabei kommen gerade im Rassismus nicht vormoderne Züge und Denkmuster zum Tragen, sondern verkürzte Elemente der Moderne, eines von Reflexion abgetrennten Wissenschaftsverständnisses, einer Sehnsucht nach absoluter Macht über die Unvorhersehbarkeit menschlichen Handelns. Die weite und sehr bedenkliche Verbreitung rassistischer und neofaschistischer Tendenzen unter Jugendlichen ist in diesem Kontext zu bewerten.

Aber auch wenn die Bewältigungskrisen nicht auf rassistische Erklärungs- und Handlungsmuster zurückgreift, lassen sich auch in anderen Bezugspunkten der Solidarität, die an Bedeutung gewinnen, Spuren einer Reflexionsmüdigkeit entdecken. Beigetragen dazu hat die schon in den 1970-er Jahren beginnende Phase der neuen sozialen Bewegungen, vor allem diejenigen, die die Neubestimmung und die Anerkennung von Identitäten zum zentralen Anlass hatten, wie die Frauenbewegung, die Zivilrechtsbewegung der Schwarzen und die Bewegung der Autonomisierung von Menschen mit Behinderungen. Ihre zentrale Forderung nach Selbstbestimmung und ihre länderübergreifenden, Nationalitäten weitgehend ignorierenden Kampagnen geraten durch die oben aufgeführten Transformationsprozesse auch in den Sog der Entsolidarisierung. Oder vielmehr, um dieser Entsolidarisierung entgegenzutreten nimmt die Zugehörigkeit zur „Kategorie“ (Frau, Schwarzer, Behinderter, Homosexueller etc.) eine substituierende Funktion an, mit der der Reflexionsbedarf unterbunden werden kann. „Frauen sind einfach anders…“.

Diese Tendenz des Rückzugs auf vorhandene Identitäten lässt sich auch in anderen Bereichen beobachten und drückt neben dem Identitätsbedarf einen Solidaritätsbedarf an. Auf der trivialsten Ebene sind das die Tendenzen der Mode, durch branding Loyalitäten unter den Konsumenten einer bestimmten Marke zu schaffen, was nicht nur bei Jugendlichen wirkt, sondern mittlerweile bei allen Altersgruppen, die sich nicht scheuen, die Marke der von ihnen getragenen Produkte in grossen Buchstaben öffentlich zu verkündigen. Das schafft – scheinbar – Sicherheit, mit der Wahl der Marke, sofern man sie sich leisten kann, entgeht man der Unsicherheit, falsch gewählt zu haben, allein dazustehen.

Auf einer weniger trivialen Ebene muss in diesem Kontext das Erstarken fundamentalistischer Gruppen gesehen werden, und dies bei weitem nicht nur im Islam. Gerade die Bemühungen, durch religiösen Fundamentalismus Politik in den Griff zu bekommen und gleichzeitig ein starkes und eindeutiges, opferwilliges Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen macht die Verbindung dieser Phänomene zu den genannten Transformationsprozessen deutlich.

Auf einer überhaus besorgniserregenden Ebene zeigt sich das Phänomen krimineller Vereinigungen, die über ihre Geschäftsabsichten hinaus, aber im Dienste dieser, immer mehr gemeinschaftsartige Strukturen entwickeln im Sinne der Mafia. Viele dieser Organisationen instrumentalisieren gerade die Unsicherheiten der Bevölkerung, die in Nachkriegszeiten oder in Zeiten radikaler politischer Umbrüche entstehen. So wurden die verschiedenen Mafiaverbände in Italien einflussreich, so operieren die terroristischen Verbände Nordirlands, so bildet sich in der ehemaligen Sowjetunion ein Netz von Organisationen mit eigenen Infrastrukturen, in ex-Jugoslawien, und so organisieren sich Strassenkinder weltweit und zunehmend auch in den Städten Europas, um nicht nur ihre ökonomische, sondern auch ihre emotionale Unsicherheit und Verlassenheit in einer Art Notsolidarität bewältigen zu können. Gerade in diesen delinquenten Vereinigungen kommen elementare Bedürfnisse nach Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit auf verzerrte Weise zum Ausdruck und dies muss bei allen Formen der Intervention berücksichtigt werden.

Der Staat ist sich der destabilisierenden Wirkung der Entsolidarisierung wohl bewusst. Aber statt die Grundannahmen der vorherrschenden neoliberalen Ideologie zu revidieren greift er zur Wahrung öffentlicher Ordnung immer stärker zu Kontrollmassnahmen mit der Begründung, diese würden ja nur die normkonformen Bürgerinnen betreffen, womit der Schein des Liberalismus gewahrt bliebe. In Wirklichkeit aber wirken diese Regulierungen gerade deshalb weiter entsolidarisierend und betreffen nicht den Kern des Problems.

AUSBLICK

Was bedeutet diese skizzenhafte Analyse der hauptsächlichen Transformationsprozesse in europäischen Gesellschaften für die Schule, die sich mit Krisensituationen konfrontiert sieht?

1.Verhaltensstörungen dürfen nicht auf der psychologischen Ebene allein analysiert und behandelt werden. Dabei könnten ganz wesentliche Inhalte übersehen werden, die Jugendliche, bewusst oder unbewusst, durch dieses Verhalten kommunizieren möchten. Ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge zwischen individuellem Verhalten und Prozessen der Verunsicherung und Entsolidarisierung auf der gesellschaftlichen Ebene ist erforderlich um nachhaltige Lösungen zu finden, Lösungen, die das im auffälligen Verhalten angemeldete Bemühen um Bewältigung komplexer Probleme erkennen und darauf aufbauen.

2.Angesichts der all die genannten Prozesse wie ein roter Faden durchziehenden Entsolidarisierungstendenzen sollten Lösungsversuche jeder Art, auch auf der psychologischen Ebene, auf die Stärkung von Solidaritätsprozessen abzielen, d.h. nicht noch zusätzlich die Individualisierungstendenzen verstärken, die ja zur Überbeanspruchung des Einzelnen geführt haben.

3.Die Stabilisierung solcher Solidaritätsstrukturen, wie sie sich etwa im Rahmen eines Gesamtschulkonzepts anbieten, kann ihrerseits nicht nur auf organisatorischer Ebene stattfinden als Kompensation für die Entsolidarisierungsprogramme, die von politischer und ökonomischer Seite betrieben werden. Vielmehr ist es notwendig, die Erfahrungen der Schule als Mikrokosmos auf der politischen Ebene wirksam werden zu lassen, schon um die Glaubwürdigkeit eines solchen Projekts den Jugendlichen gegenüber zu untermauern. Hier wäre ein entscheidender Beitrag zu leisten, mit dem die viel zitierte „Politikmüdigkeit“ Jugendlicher überwunden werden könnte.


Literaturhinweise

Bauman, Z. (2005), Moderne und Ambivalenz – das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg: HIS Verlag

Castells, M. (2002), Das Informationszeitalter II: Die Macht der Identität, Opladen: Leske + Budrich

Giddens, A. (2008), Konsequenzen der Moderne, Frankfurt: Suhrkamp

Kaufmann, F.-X. (2005), Schrumpfende Gesellschaft – Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt: Suhrkamp

Therborn, G. (2000), Die Gesellschaften Europas 1945-2000, Frankfurt: Campus Verlag